Wagenplätze in Leipzig: Teils bedrohte, teils akzeptierte Wohnform

Ob gekauft oder besetzt, privat oder öffentlich die Wagenplätze, eine Art Wohnprojekt in Leipzig, ziehen viele Neugierige an. Obwohl die Siedlungen von der Stadt toleriert werden, fallen sie manchmal Räumungen zum Opfer. Ein Besuch bei Menschen, die sich entschieden haben, anders zu wohnen.

Konzerte, Aufführungen, solidarische Küche oder einfach nur Kaffeeklatsch und Bier: Fast jeden Abend gibt es auf dem Wagenplatz KarlHelga in der Klingenstraße in Plagwitz eine Aktivität. An diesem Donnerstag treffen sich die Bewohner:innen zum wöchentlichen Kinoabend. Um Viertel vor acht öffnen sich die Türen, um einige Freunde zu begrüßen, die zu diesem Treffen unter Nachbarn eingeladen wurden. Auf dem Programm stehen Vincent Gallos „Die Legende von Kaspar Hauser“ und „Dark Star“, ein Science-Fiction-Film von John Carpenter. „Die sind so underground, dass es noch nicht einmal einen Trailer gibt, glaube ich“, scherzt ein Gast. KarlHelga gibt es seit fast 15 Jahren. Heute leben fast 60 Erwachsene und Kinder in selbstgebauten Wagen dauerhaft auf der 3,5 Hektar großen Fläche. Dazu kommen die jungen Leute, die regelmäßig zu ihren Familien zurückkehren, und auch Gäste, die mehr oder weniger lange auf der Durchreise sind. Seit dem Eigentümerwechsel im Jahr 2020 befürchten die Bewohner:innen und Mieter:innen dieser Parzelle jedoch, dass sie bald ausziehen müssen.

„Man hilft sich gegenseitig und ist nie allein“

Der Stadtteil Plagwitz ist ein ehemaliges Industriegebiet, das heute von Wohn- und Geschäftshäusern geprägt ist. Der Straßenbelag hier ist noch heiß von einem sonnigen Tag; die sommerlichen Temperaturen sind in diesem Juli stark spürbar. KarlHelga erscheint daher wie eine kleine Oase inmitten dieser Asphaltwüste. Die „unversiegelte, renaturierte Freifläche bietet zahlreichen geschützten Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum“, schreibt auch die Leipziger Regionalgruppe des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).

Kadschi, die nur ihren Spitznamen nennen möchte, führt barfuß durch ihr kleines Paradies.Die Yogalehrerin wohnt seit 2019 in KarlHelga. Sie kommt aus Regensburg, wo sie bereits auf einem Wagenplatz lebte: „Ich habe mich für diese Lebensform entschieden, weil ich mich sehr gerne draußen aufhalte.“ Der Wagenplatz wird von den örtlichen Behörden „geduldet“, die Bewohner:innen zahlen Miete und müssen sich an die gleichen Regeln halten wie jede:r andere Mieter:in auch: „Wir zahlen einen überschaubaren Betrag pro Person und Monat, abhängig von unserer finanziellen Situation. Diejenigen, denen es besser geht, helfen denen, die einen schwierigeren Monat hatten. Wir sind autonom, was das Wasser fürs Duschen und die Pflanzen angeht, und einige von uns leben sogar energieautark, da sie ihr eigenes Sonnenkollektorsystem haben. Wir sind aber auch an das lokale Energienetz angeschlossen, haben Internet und Trinkwasser, das wir von einem nahe gelegenen Wohnprojekt beziehen“, erzählt Kadschi.

Bedrohtes Eden

Ein Geruch von Humus, ein Holzhaufen, wilde Bäume und Blumen. Hier gibt es eine ganz neue urbane Biodiversität. Im Jahr 2020 kaufte der Immobilienentwickler CG Elementum das Grundstück von der früheren Eigentümerin, obwohl die Bewohner von KarlHelga laut BUND jahrelang versucht hatten, das Grundstück selbst zu kaufen. Diese Pläne machen Kadschi zu schaffen: „Dieser Eigentümer hat bereits viele Geschäfte und Wohnungen in der Gegend gebaut. Wir glauben, dass er eine industrielle Anlage braucht, und wir gehen davon aus, dass es irgendwann unser Grundstück sein wird.“ Wie viele andere Bewohner:innen lebt sie in Ungewissheit und Angst, jederzeit aus ihrer eigenen Wohnung vertrieben zu werden. „Wir wissen nicht, ob es noch aktuell ist, da wir bis jetzt nicht viele Details oder Vorankündigungen erhalten haben. Wir haben bereits mit dem Vermieter gesprochen. Er hat uns versprochen, in Kontakt zu bleiben, aber bisher hat er immer Ausreden gefunden, um jeden Termin oder jedes Gespräch mit uns zu verschieben.“

Der Verein Haus- und WagenRat e.V. setzt sich für die Anerkennung dieser Wohnform ein. Als Mitglied des Vereins berät Florian Gruppen, die sich für das Leben im Wagen interessieren, über Organisations- und Rechtsformen. Er argumentiert, dass Leipzig in der Vergangenheit nicht „entwickelt“ genug war, als dass ein Unternehmen irgendein Interesse daran gehabt hätte, in dieses Grundstück zu investieren: „Heute hat sich die Situation geändert. Das Ziel dieses Unternehmens ist nicht, das Grundstück wieder aufzukaufen, sondern es zu nutzen, um daraus etwas Profitableres zu machen. Somit ist die Aussicht, das Grundstück ohne politische Unterstützung zu sichern, völlig verschwunden oder zumindest ungewiss.“

Heiko Rosenthal ist Bürgermeister der Stadt Leipzig und zuständig für die Bereiche Umwelt, Klima, Ordnung und Sport. Da KarlHelga von privaten Eigentümern abhängig ist, sagt er, dass die Stadt Leipzig nicht Teil der Vereinbarung sein wird. „Wir haben einmal mit den Akteuren von KarlHelga ein Gespräch über die Situation geführt. Wir haben auch Kontakt mit dem Eigentümer aufgenommen”, erklärt er. Die Stadt versucht, Diskussionen auf beiden Seiten zu führen, um eine Einigung zu erzielen. „Wir schauen auch, was auf kommunaler Ebene politisch vertretbar ist – aber wir können nicht mehr als eine Vermittlerrolle haben“, fügt der Bürgermeister hinzu. Das Unternehmen Gröner hat mitgeteilt, dass sie „aufgrund der aktuellen Lage in der Immobilienbranche” momentan keine Veränderungen oder neue Erschließungen des Grundstücks planten.

Kadschi setzt sich auf eine Bank in ihrem kleinen Garten. Hier gibt es keinen Zaun oder Busch, der die Nachbarn voneinander trennt. Kadschi bedauert, dass es in Deutschland kein Gesetz gibt, das die Mieter:innen bei einer Mietübernahme schützt: „Der Eigentümer hat den Ort gekauft, er kann dort machen, was er will“, sagt sie, während sie an ihrem Tee nippt. „Außerdem werden Wagenplätze zwar toleriert, aber sie sind nicht legal. Und selbst bei Wohnungen kann man nicht viel machen, wenn der Vermieter eines Tages kommt und sagt, dass alles renoviert werden muss und man ausziehen muss. Es gibt nur eine dreimonatige Kündigungsfrist und das war’s.“

Hoffnung für diejenigen, die anders leben wollen

Obwohl der Wagenplatz KarlHelga bedroht ist, schießen Wagenplätze überall in der Stadt wie Pilze aus dem Boden. Eine der ersten von ihnen heißt Toter Arm und ist bereits im Jahr 2000 entstanden. Weit entfernt vom Stadtzentrum, hier wird die Stille der Natur nur von den schnatternden Hühnern und dem Hahn durchbrochen. Seit 2005 wohnt Jo, der auch nur seinen Spitznamen nennen möchte, hier gemeinsam mit seiner Tochter: „Wir haben einen jährlichen Pachtvertrag. Wir sind sicher, dass es sich um eine politische Entscheidung der Stadt handelt, um uns ein freies Leben zu ermöglichen. Wir achten auf die Regierung; derzeit ist es ziemlich linksliberal und wir hoffen, dass das so bleibt“, sagt der Sozialarbeiter. Laut Jo hatten die Kommunen in der Vergangenheit selten Erfolg dabei, Wagenplätze zu räumen. In Leipzig fand die erste Räumung von Wagenplätzen im Jahr 2015 mit Mora Risa statt. Jo denkt, die Stadt Leipzig hat daraus gelernt und verstanden, „dass es besser ist, diese Plätze zu ermöglichen, eine positive Einstellung zu diesen alternativen Wohnprojekten zu haben und mit den Menschen dort zusammenzuarbeiten, denn wir können nicht so einfach verschwinden.“ Jo fühlt sich glücklich, denn in Leipzig „ist die Regierung sehr offen, und in den letzten Jahren wurden mehr Wagenplätze geduldet als geräumt“.

Heiko Rosenthal zufolge hat die Kommune beschlossen, die Stellplätze nicht zu kriminalisieren, da sie Teil der Stadt sind: „Wo die Fläche gut geeignet ist, kann man sie für diese Art des Wohnens im städtischen Raum nutzen.“ Dennoch räumt der Linken-Politiker ein, dass sich die Wagenplätze in einer rechtlichen Grauzone bezüglich des Baurechts befinden. „Es gibt keine Rechtsgrundlage für Wagenplätze. Man muss diese politischen Diskussionen weiterführen, im konkreten Fall durch einen Vertrag bearbeiten, und das muss nach Annahme eines Vertrages kontrolliert werden.“

Auf dem Weg zur Akzeptanz von alternativen Lebensformen?

Jetzt kommen die Hunde von Kadschi. Die beide verstecken sich unter dem hohen Gras des Gartens. Kadschi bleibt optimistisch: „Es gibt viele Unwägbarkeiten, aber ich denke, dass wir noch ein paar Jahre hier leben können. Ich habe noch keinen Plan für die Zukunft, und bis jetzt möchte ich alles tun, um diesen Ort zu unterstützen und zu verteidigen.“ Sie hofft, dass diese Art von Wohnraum besser von der Gesellschaft und der Politik anerkannt wird, damit mehr Menschen so leben können: „Ich denke, es ist ein zukünftiges Lebenskonzept, denn viele würden gerne so leben, haben aber nicht unbedingt die Kraft für all das, was wir durchgemacht haben.” Laut der jungen Frau fühlen sich die Menschen seit der Pandemie zunehmend isoliert: „Es ist wichtig, zum Gruppengeist zurückzukehren. Hier hat man ein besseres Verhältnis zur Natur. Man lernt zu teilen, anstatt das‚ Jeder für sich’ zu propagieren“. Jo würde sich wünschen, dass die Stadt Leipzig neue Wagenplätze nicht nur toleriert, sondern aktiv zulässt oder sogar legalisiert: „Hier ist die Gemeinschaft wichtig, aber nicht nur. Auch die Individualität hat ihren Platz, jeder hat seinen eigenen Wagen und kann damit machen, was er will. Es ist eine Mischung aus Kollektivität und Individualität.“

Psyche

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